Samstag, 20. August 2016

Ein Jahr jünger dank "Bauchgefühl"

GESCHICHTE Wie der Hobby-Historiker Peter Kolb seinem Heimatort Dalheim einen neuen "Geburtstag" schenkte

Von Ulrich Gerecke

DALHEIM. Wer träumt nicht davon, mit einem Schlag ein Jahr jünger zu werden? Dalheim hat's geschafft - mit einem Federstrich hat der 1000-Seelen-Ort sein bisheriges Geburtsdatum vom 10. Juli 766 auf den 2. Juni 767 ändern dürfen. Deshalb hat der Ortsgemeinderat jetzt auch seine Jubiläumsfeier verschoben, die 1250. Kerze auf der Torte wird jetzt erst im Jahr 2017 angezündet.

Der Ort, an dem Dalheims Geschichte beginnt - und
zwar 767, nicht 766: das Kloster Lorsch.
Zu verdanken hat Dalheim diese Firschzellenkur der Beharrlichkeit von Peter Kolb. Der pensionierte Schulleiter zählte als Pennäler Mathematik und Geschichte zu seinen Lieblingsfächern, deshalb sagt er auch: "Mich stört es, wenn mit Daten unkritisch umgegangen wird." Genau das ist im Fall des Dalheimer Geburtstags geschehen, wie Kolb nach einem halben Jahr akribischer Recherche nachweisen konnte - und wie es jetzt auch vom Landesarchiv in Speyer als letzter Instanz höchst offiziell bestätigt wurde.


AZ-Artikel als Anstoß


Kolbs spannende historische "Schnitzeljagd" hatte im Frühjahr zwei Auslöser. Zum einen wollte er als Vorstandsmitglied der "Bürger für Dalheim" (BfD) eine Jubiläumsausstellung vorbereiten. Zum anderen wurde er durch einen AZ-Artikel über die Häufung von 1250-Jahr-Feiern in der Verbandsgemeinde Rhein-Selz inspiriert. "Ich war einfach neugierig und nach den ersten Recherchen hat mir mein Bauchgefühl gesagt, dass da etwas nicht passt."

Corpus Delicti: Dieser Auszug aus dem Kopialbuch
zum Lorscher Codex enthüllt das wahre Datum
der ersten urkundlichen Erwähnung Dalheims.

Foto: Staatsarchiv Würzburg
Dalheims Geburtstag geht - wie so viele andere - auf die erste urkundliche Erwähnung im Lorscher Codex zurück. Am 10. Juli 766 schenkte demnach ein Ritter namens "Goudin" oder "Godewin" dem berühmten Kloster eine Wiese in "Dalaheimer Marca". So steht es zumindest in dem Regestenbuch, einem Verzeichnis von Urkunden, das Heinrich Eduard Scriba 1851 herausgegeben hat, und das bisher als rechtsverbindlich galt.

Doch bei der Suche nach der Quelle dieses Datums stieß Kolb schnell auf Ungereimtheiten. Die Originalurkunde ist verschollen, deshalb musste als Referenz das Kopialbuch (siehe Kasten) herhalten, das die Lorscher Mönche einst angefertigt hatten. Dieses spürte Kolb schließlich im Würzburger Staatsarchiv auf. Und siehe da: Hier wird Dalheim erstmals am 2. Juni 767 erwähnt.

Die entscheidende Frage lautete nun: Wer hat Recht?

Kolb bohrte weiter nach, zog Experten der Landesarchive in Hessen und Rheinland-Pfalz zu Rate, konsultierte den Mainzer Landesgeschichte-Experten Professor Michael Matheus. Und ziemlich schnell wurde klar: Das Kopialbuch war verlässlicher. "Dort wird nämlich neben dem Datum auch erwähnt, welcher Herrscher in welchem Regierungsjahr gerade an der Macht war, und welcher Abt die Schenkung notariell beglaubigt hat", nennt Kolb die drei entscheidenden Kriterien, die die Geschichtswissenschaft für eine Quelle anlegt. "Bei Scriba ist nur das Datum erwähnt." Und zwar falsch.

Offensichtlich hatte sich der Regesten-Verfasser im 19. Jahrhundert schlicht und ergreifend verrechnet, als er das 15. Königsjahr des Frankenkönigs Pippin (damals galt noch der Julianische Kalender) als 766 deutete, statt 767. Oder vielleicht saß schon Scriba einer Fehlinformation auf, als er sich auf eine Edition des Lorscher Codex' von Andreas Lamey aus dem Jahr 1768 stützte.

Vielleicht kein Einzelfall


Zweifel an Scribas Version gab es schon länger, Kolbs Hartnäckigkeit hat diese jetzt im Fall Dalheim belegt. Und weitere Folgen sind nicht auszuschließen. Der Dalheimer mit dem Gespür für Zahlen verweist darauf, dass Mommenheim bereits sein "Geburtsjahr" von 764 auf 766 korrigiert hatte. "Ich gehe davon aus, dass auch andere Daten nicht stimmen. Warum sollte Dalheim da eine Ausnahme sein? Es müsste jemand die Zeit opfern, das zu untersuchen." Jemand mit einem so guten "Bauchgefühl" wie Peter Kolb.

Quelle: Mainzer Allgemeine Zeitung, 22.11.2015